Thüringer Allgemeine
Erfurter Design-Kollektiv: Tausende Bilder mit romantischem Raben
Sie haben gesiegt. Das war bestimmt toll. Der Preis des Erfolges, den sie bekamen: 15 000 Euro. Der Preis des Erfolges, den sie zahlen: sehr, sehr viel Arbeit. Ihr Blog im Internet ächzt und stöhnt bisweilen davon. Zunächst „wissen wir einfach nicht wie viele Bilder wir brauchen“, heißt es am 6. Juni. Elf Tage später: „Wir sind immer noch im Zeitrahmen. Aber mal sehen, wie lange wir das durchhalten… es sind einfach zu viele Bilder zu zeichnen.“ Und Anfang Juli: „Manchmal hat man das Gefühl, die Frames nehmen kein Ende.“Da haben sich die Jungs aus Erfurt was eingebrockt. Aber sie wussten ja, so ungefähr wenigstens, was sie im Fall des Falles erwarten würde. Im Wettbewerb des Festivals „Genius Loci Weimar“ einen der Preise zu gewinnen, hatten sie nicht nur gehofft. Sie glaubten fest daran.Dirk Rauscher hatte sich alle anderen 50 Bewerbungen „reingezogen“, die aus 22 Ländern weltweit zum Tempelherrenhaus eingingen. „Dabei zeigte sich schnell, dass wir gar nicht so schlechte Karten hatten.“Patrick Föllmer, der Musiker im Team, sagt auch, warum: „Weil es eine handgezeichnete Story ist und kein Effektgeballere, das witzige Räume erzeugt aus Jux und Tollerei, sondern tatsächlich eine künstlerische Umsetzung, die auf gnadenlos harter Arbeit basiert, aber auch auf wunderschöner Ästhetik.“Aber, meint Michael Schinköthe und grinst, „es hat uns auch ein bisschen gegruselt vor der Arbeit.“ Der Zeichner und Illustrator sitzt mit seinen Partnern in der Atelierküche.Erfurt, Talstraße, an der Grenze von Altstadt und Andreasvorstadt gelegen. Hier hat „Greatmade“, eine Bürogemeinschaft und ein Design-Kollektiv für Illustration, Schriftgestaltung und Grafikdesign, seinen Sitz. Sie arbeiten in einem „Wächterhaus“: Ein gleichnamiger Verein in Erfurt bemüht sich darum, leer stehende Gebäude „durch die Nutzung von kreativ arbeitenden Wächtern zu erhalten und vor Verfall zu schützen.“ Für „Greatmade“ bedeutet das zugleich den Freiraum, sich nicht gänzlich auf dem freien Markt bewegen zu müssen, sagt Schinköthe.
Vermeintlich künstliche Ruine der Romantik
Draußen ist Sommer, die Ferienzeit hat begonnen. Drinnen läuft die Zeit rückwärts: sechseinhalb Wochen bis zum Tag der Wahrheit. Bis dahin bleibt viel zu tun. Noch wirken die Jungs aber recht entspannt.
Sie arbeiten von morgens bis abends an „Romanzero“: einem handgezeichneten Film für eine Fassadenprojektion am Tempelherrenhaus im Weimarer Ilmpark. Die Jury des Festivals wählte sie für den Ort aus.Es geht um Medienkunst an Fassaden. Videomapping heißt das Prinzip: Projektoren werden auf eine architektonische Oberfläche passgenau ausgerichtet, Lichtspiele bringen Mauern zum Sprechen und Erzählen.Dafür wurde das internationale Festival 2012 gegründet. Das Thüringer Wirtschaftsministerium sitzt seit Anbeginn im Boot. Diesmal lässt es 234 000 Euro springen, aus dem Fördertopf für Kreativwirtschaft. Aus hiesiger Sicht wurden damit bislang vor allem Kultur und Tourismus gefördert. Den Wettbewerb gewannen Künstler aus Österreich, Frankreich, Ungarn, Italien und Brasilien, aus Bremen, Dresden und Berlin. Thüringer waren nicht darunter, sie bewarben sich nicht. Das war bei der fünften Auflage anders.Die Idee mitzumachen, hatten Michael Schinköthe und Stefan Kowalczyk schon länger: Weil es „kein schlechtes Preisgeld ist“.
Dirk Rauscher, der einzige im Team mit Erfahrung in Fassadenprojektionen, bestätigt das: In diesem Metier böten die Weimarer „eine der höchst dotierten Ausschreibungen für künstlerische Projekte“.Die Erfurter haben Spaß und werden dafür bezahlt. Was will man mehr? Sie dürfen ihr Preisgeld bloß nicht auf Arbeitsstunden umrechnen, denn dann landet jeder unterm Mindestlohn.Schinköthe und Kowalczyk bewarben sich, am Tempelherrenhaus den Geist des Ortes (Genius Loci) zu beschwören. Es stand als eines von drei Objekten zur Auswahl. „Hätten wir uns vorher intensiver mit den Herausforderungen beschäftigt, wären wir uns nicht so sicher gewesen, ob das die beste Wahl war.“ Ein Ort, zu dem sich viel erzählen lässt. „Aber technisch ist er anspruchsvoll, weil das Haus eine so hohe Tiefe hat.“ Vorsprünge und Bögen unterbrechen die Projektionsebene. „Uns hat das Tempelherrenhaus aus dem geschichtlichen Kontext heraus angesprochen“, sagt Schinköthe. Und dieser ist einigermaßen komplex. Die vermeintlich künstliche Ruine der Romantik steht fürs „fälschlicherweise für falsch gehaltene Echte“, so die Ausschreibung. Die Geschichte des Ortes begann als Gewächshaus, aus dem im 18. Jahrhunderts ein Salon für höfische Vergnügungen wird. Künstliche Ruinen treten später hinzu. Als ein Tempel nebst Kapelle entsteht, gibt Liszt häufiger Konzerte hier. Dem Bauhaus-Maler Johannes Itten dienst der Ort als Atelier. „Greatmade“ reagiert darauf mit klassischen Motiven der Romantik. Die Geschichte „Romanzero“ ereignet sich zwischen einem Raben und dem Mond, als ein Spiel mit Hell und Dunkel, Licht und Schatten.
Alle vier Künstler betreten Neuland
„Der Rabe ist aus dem romantischen Aspekt heraus der bestgewählteste Protagonist“, findet Patrick Föllmer. Als mystische Figur sei er ein Symbol für Verfall. Er stand in der Antike für Untreue und Verrat, in der nordischen Mythologie galt er als Leichenvogel. Patrick Föllmer erinnert an ihn aber auch als die Götter begleitendes Tier, „Ihm wurden hellseherische Fähigkeiten zugeschrieben und Indianer haben ihn sehr verehrt.“Fürs Bewerbungsvideo, eine halbe Minute lang, zeichneten Schinköthe und Kowalczykbinnen vier Tagen rund 480 Schwarzweißbilder. Nun geht es um eine mindestens zehnminütige Geschichte. Hochgerechnet 8000 bis 9000 Bilder müssen dafür entstehen. „Die komplett durchzuzeichnen, ist nicht natürlich nicht möglich“, räumt Stefan Kowalczykein. Also muss man Sequenzen bauen, die sich mehrfach verwenden lassen: Rabe fliegt. Rabe landet. Hintergrundelemente bewegen sich. „Manchmal verknoten wir uns fast im Kopf“, sagt Rauscher zu Berechnungen, die anzustellen sind. Man müsse am unebenen Tempelherrenhaus ständig tricksen, „um es aussehen zu lassen, als verändere sich die Tiefe.“Die Bilder zeichnen sie auf einem Grafiktablett am Computer. Den Vogel lassen sie im 3D-Raum fliegen, die Sequenzen werden zu einzelnen Grafiken herausgerechnet und nachgezeichnet sowie in die Hauptsequenz zurückgeholt, um zu sehen, wie der gezeichnete Rabe auf dem Gebäude aussiehtPatrick Föllmer komponiert dazu die Musik. Er hatte angefangen, ein Requiem für Klavier zu schreiben und benutzt nun das Hauptthema daraus. Er hat es als Klaviersatz ausgeschrieben, jetzt kommen Streicher, Hörner, Trompeten hinzu. Einige Stimmen spielt er selbst ein.Es ist sein erstes klassisches Orchesterwerk. Und überhaupt haben alle vier Künstler für dieses Projekt Neuland betreten. „Romanzero“ ist für sie eine absolute Premiere, schon bevor die Projektion zur Premiere gelangt.